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Wir sind im Werden und ich bin überrascht.

  • Linda Fress
  • Oct 19
  • 4 min read

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Es überrascht mich. Ich hätte nie gedacht, dass ich mir mal etwas aus Karriere, Wohnort, Kindern, Ehe machen würde. Ich oute mich hier öffentlich: Ich habe spezifische Ansprüche und Erwartungen an mein Leben entwickelt - und es nervt. Die längste Zeit war mein einziger Anspruch, zu überleben und dabei möglichst viel Spaß zu haben. Überleben fiel schwer, Spaß haben leicht. Und immer ging’s mir um den lieben Moment.

„Was willst du mal werden?“ Ein degradierender Spruch, aus heutiger Sicht, denn er unterstellt, bisher nichts zu sein. Werde ich durch Arbeit? Bin ich immer das, was ich tue? Wir sind jedenfalls mehr das, was wir tun, als das, was wir nicht tun. Ich denke, darauf können wir uns einigen. Und Träumerei macht uns nicht zu etwas – außer zu Träumer:innen mit viel Fantasie. Und ja, ja, sie kurbelt die Kreativität an, aber Denken ist nicht Handeln. Glücklicherweise, denn die Justiz wäre stark überlastet.


Um eine produktive Vorstellung von der eigenen Zukunft zu haben, müssen wir in der Lage sein, Raum einzunehmen. Wir müssen verstehen, dass wir Qualitäten haben. Aber wie zur Hölle sollen wir das begreifen, wenn wir immer nur werden und nie sind?

Wir sind im Werden. Manche Sätze klingen einfach gut und dieser Satz gehört dazu. Es ist kein Zitat, auch wenn ihn bestimmt schon mal jemand gesprochen oder geschrieben hat, ich habe ihn nirgendwo gelesen. Was ich sagen möchte ist, dass ich ich mir Sätze ausdenken kann, die meine vollste Zustimmung genießen. Wir sind im Werden, ist das nicht schön? Aber leider habe ich den Satz nicht wirklich begriffen, denn sonst würde ich mich besser fühlen, so im alltäglichen vor mich hin arbeiten.

Denn was ich werden möchte ist viel und manchmal denke ich, ich bin zu wenig, ich bin fast gar nicht bis gar nicht. Wer jetzt aufgepasst hat merkt, das ist ja genau das Gegenteil von "Wir sind im Werden". Ja, es ist genau das Gegenteil und diese Einstellung, meine Einstellung, die Gegenteilige, wie widerstrebt der Existenz und allem was die Gurus sagen, auf ihren Yogamatten, mit ihren Duftölen, Räucherstäbchen und dem tiefen Atem. Mein Leben ist eine Anti-Affirmation und ich hate nicht, ich habe auch eine Yogamatte.

Es ist schon eine Leistung, gar keine Zeit mehr für die Yogamatte zu haben, weil Projekte Projekte und trotzdem pleite zu sein. Ich wünsche mir einen Preis dafür, für meine 70-Stunden Woche und dem lichten Kontostand. Das ist tatsächlich eine Leistung und ich gehe auf die Bühne und hole meinen Preis und ich höre sie sagen: "Wie schafft sie das nur?" Und ich höre mich sagen: "Kunst ist das Geheimnis und ich bedanke mich bei meinen Eltern, ohne sie hätte ich das nicht so schlecht geschafft."


Ich bleibe weiterhin überrascht von meinen Erwartungen an meine Zukunft und dieses Gerede über Geld. Und natürlich suche ich es mir aus, denn ich könnte mich auch Vollzeit anstellen lassen, also wozu die ganze Jammerei. Und dann denke ich mir, nein ich suche es mir nicht aus, Projekte Projekte, ich lebe auch um möglichst glücklich zu sein und ich muss Kunst machen, das ist keine Entscheidung. Es ist existenziell. Es erfüllt mich, heute zu arbeiten für ein Morgen und heute etwas herzustellen, ein Bild, das ich morgen betrachten kann. Dieses Bild ist der Beweis, dass ich lebe, denn es steht da, im Raum, mit mir. Ohne dieses Bild bin ich mir nicht sicher, wo ich stehe, und ob ich stehe, und mir würde schwindlig werden. Bezugspunkte sind wichtig für die Orientierung.


Seitdem ich begriffen habe, dass ich eine Existenzberechtigung habe auf dieser Welt - und das ist eine vergleichsweise rezente Erkenntnis - versuche ich, so viel zu existieren wie möglich. Und für mich bedeutet das: werken, kreieren, erschaffen, um dem unerträglichen Schwindel entgegenzuwirken.

Ich sitze am Tisch, und ich packe mir viel auf den Teller, weil ich Bock drauf habe und hungrig bin. Und eigentlich wär doch alles gut, doch dann kommen sie und überraschen mich wieder, diese Gefühle, am Frühstückstisch, an einem Samstagmorgen. Sie sind kompliziert und zu viel, und manche sagen mir, ich sei schlicht überarbeitet. Aber das stimmt so nicht.

Dann stellt sie sich ein, diese Traurigkeit und Verzweiflung darüber, dass die Uhren ticken und die Zeit rinnt und ich renne und arbeite, so viel ich kann, um alles aufzuholen, was ich versäumt habe, und all die Arbeit zu verrichten, die ich nicht erledigen konnte, weil ich nicht wusste, ob und für was ich existiere.

Und plötzlich, aus dem Nichts, spüre ich ihn: diesen Druck, zu besitzen, zu sein und zu gebären, um immer mehr zu werden. Denn andere machen das auch, und ich stehe doch in Beziehung zu ihnen. Mir hängt ein Kloß im Hals, denn in solchen Momenten weiß ich nicht mehr, wer ich bin. Ich weiß nur, dass die Zeit rücksichtslos ist.


Hat die Zeit keine Zeit, auf mich zu warten? Sie sollte doch unendlich sein, wie die Liebe, oder nicht? Ist sie zu beschäftigt damit, Menschen wie mir davonzurennen?


Ich bleibe überrascht, woher sie kommen, diese Gefühle, dieser Druck. Denn ich war nie so. Ich bin wohl doch noch was geworden. Was für ein Glück.

 
 
 

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