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Zahlen, bitte!

  • Linda Fress
  • 6 days ago
  • 3 min read

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Es ist ein interessanter Moment, wenn die Kellnerin zu mir kommt und abkassiert.

Ich mache mir viel aus dem, was sie denkt, über mich, ihre Meinung ist mir wichtig. Ich möchte ein angenehmer Gast sein. Wobei, das ist völlig untertrieben, to be honest. Ich will die beste Gästin sein, die je da gewesen ist. Man könnte mir unterstellen, ich würde etwas Besseres sein wollen und möglicherweise ist das berechtigt, ich bin noch auf der Suche nach den Ursachen für mein Bestreben. Sicher ist, dass ich eine Melange an Gefühlen durchlebe, wenn sie zu mir schreitet, schnellen Schrittes, die Kellnerin, weil sie beschäftigt ist, denn sie arbeitet hart, es gibt viele Gäste, sie ist die Gastgeberin, ich bin der Gast. Ich will mich einkaufen, in das Lokal, ich will immer wieder kommen dürfen. Ich habe eine Leidenschaft für Cafés und Kaffeehäuser. Es gibt nichts Besseres auf der Welt, als ein nettes Ambiente und guten Kaffee. Ich genieße jede Sekunde. 

Doch wenn die Kellnerin kommt, zum Abkassieren, passiert etwas mit mir. Mein Gefühlschaos in diesen Momenten, gehört besprochen, wenn nicht sogar therapiert. Es ist eine Symphonie aus Freude, Druck und fantastischen Halluzinationen, die mich ergreifen und denen ich machtlos unterliege. Denn plötzlich verlässt mich etwas, nennen wir es Verstand und ich tue so, als könnte ich mir alles leisten, dabei gönn ich mir nur das, zu viel Trinkgeld geben. Trinkgeld geben ist mein Kurzurlaub, denn sie lassen mich verschwinden, diese Momente, wenn die Kellnerin kommt, zum Abkassieren. Die Erwartungen sind hoch. First class, fake news, Labubu, Dada, Sylt, Bali, Feed. Ich bin daneben. Ich weiß in solchen Momenten nicht, wo die Grenze ist. Ich weiß nicht, was richtig und falsch ist, was zu viel und was zu wenig. Da ich selbst jahrelang gekellnert habe, kann ich aus Erfahrung sagen: Es kann nicht zu viel Trinkgeld geben. Aber was ist viel? Viel wert sind sie mir, die Momente im Kaffeehaus. Kürzlich wollte ein Kellner mein Trinkgeld nicht annehmen, er meinte, es läge weit über dem Durchschnitt, das könne er nicht annehmen, er hat mir zwei Euro zurückgegeben. “Das ist nicht notwendig", habe ich ihn sagen hören. “Für Sie vielleicht nicht”, habe ich mich denken hören und meine Vermutung hat sich bestätigt: Ich bin abnorm. 


Es ist eine Symphonie aus Freude, Druck und fantastischen Halluzinationen, die mich ergreifen und denen ich machtlos unterliege. Es gehört besprochen, wenn nicht sogar therapiert. Es ist üblich, dass sich Inhalte wiederholen, in einer Therapie und im Leben. Das Leben bringt einen in Therapie und die Therapie zurück ins Leben und so pendelt das hin und her, wie die Kuckucksuhr. In regelmäßigen Abständen kommt was zum Vorschein, der Kuckuck oder schräge Eigenschaften, die man nur halb versteht. 

Mein Zustand verdichtet sich, bevor ich geh, denn am liebsten würd ich bleiben und immer möchte ich wiederkommen. Daher ist es wichtig, ein angenehmer Gast zu sein. Ich bin dem Lokal was schuldig und bis zu einem gewissen Grad muss ich entscheiden, wie viel. Und das ist ein schwieriges Unterfangen. Schuld. Ich scheine meine Schuld hoch einzustufen. Das ist anerzogen, christlich, ich bin eben traditionell.

Er ist für unsere Sünden gestorben, denn wir sind Sündiger und bitte vergib uns unsere Schuld. Unser Symbol der Liebe hängt dort, im Raum, in voller Pracht, gegeißelt, gekreuzigt, mager, Dornenkrone, Wunden und Blut, Lanzenstich, Tod.

Lovely. Nee du und danke dafür, echt, das wäre doch nicht nötig gewesen. 



"Wie andere in den Park oder in den Wald, lief ich immer ins Kaffeehaus, um mich abzulenken und zu beruhigen, mein ganzes Leben." (Thomas Bernhard) 









 
 
 

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