Über Potenzial
- Linda Fress
- Sep 21
- 4 min read

Selbstverständlich sind wir alle individuell, jeder für sich, ein eigenes Universum, ein Kosmos, der nicht selten für andere, wenn nicht sogar für sich selbst rätselhaft bleibt. Niemals kann sich jemand Außenstehendes darüber ein Urteil bilden, worin für jemand anderes das Glück im Leben liegen mag. Denn auch die Beziehung zu sich selbst ist eine Beziehung und in Beziehungen lässt sich schwer reinschauen, das wissen wir. So werde ich mich hüten, Ratgeberin zu sein, sondern lediglich von mir erzählen und hier und da mal einen Blick in die Wissenschaft werfen. Und der Blick ist schon öfter gefallen und da fällt auf: wenn man das eine Leben mit anderem Leben vergleicht, dann kommt es vor, dass diese Leben ähnliche Probleme bergen, manchmal sogar die gleichen, wenn nicht sogar dieselben. Und wenn sich da ein Muster erkennen lässt, dann heißt das strukturelles Problem, denn diese Menschen sind nicht zwingend miteinander befreundet. Die Struktur ist politisch und die Struktur ist bestimmt. Denn nur bestimmte Menschen sind von Diskriminierung betroffen und nur bestimmte Menschen von Gewalt, auch wenn die Gewalt alle betrifft, die ganze Gesellschaft, aber es ist schon ein Unterschied, finde ich, ob man davon stirbt oder nicht.
Sucht betrifft alle gleichermaßen und niemand Bestimmten. Auch wenn Schönheit und Geld sicherlich dazu beitragen, sie schöner aussehen zu lassen, denn mit Geld sieht alles schöner aus, auch der Schmerz und ich vermute er fühlt sich auch schöner an, aber ich habe damit keine Erfahrung.
Worin ich Erfahrung habe, ist, was es bedeutet, von Sucht betroffen zu sein und was es bedeutet, wenn nicht nur die eigene Klasse und Familiengeschichte, sondern auch der Alkohol einem im Weg steht und man es ewig nicht merkt, weil es doch alle tun und die anderen kommen doch auch vom Fleck. Und das stimmt natürlich nicht, ich bin extrem viel vom Fleck gekommen, Nomaden kennen keine Flecken beziehungsweise kennen die meisten von allen. Wie dem auch sei, auf den vielen verschiedenen Wegesflecken die ich entlang ging, bereiste und bewohnte, war Alkohol war mit mir auf dem Weg. Ok, nicht immer, manchmal auch nur selten, ich habe das Wasser gern gehabt, schon immer, staying hydrated, aber sagen wir mal, an den Raststationen. Am Gipfel, auf der Bank, beim Aussichtspunkt. Und jetzt denkt sich der eine oder die andere, na du hast es doch eh hoch geschafft. Ja hab ich, denke ich, aber liebe Freunde, es geht um den Horizont. Wie kann sich der Horizont erweitern, wenn man so voll ist, dass man ihn entweder gar nicht oder doppelt sieht?
Orientierungslosigkeit ist die Folge. Wie oft bin ich volltrunken den Berg hinunter gestürzt, im Morgengrauen, aufgewacht mit Verletzungen, der Horizont in weiter Ferne und die einzige Erinnerung an das Erlebnis meine blauen Flecken und selbst die verblassten. Und mit ihnen der Schmerz über die Ereignisse. Und da wohnt der Fehler, denn wir vergessen. Ich will hier niemanden mit reinziehen, ich bleibe bei mir und sage, ich vergaß. Darin war ich trainiert, denn wenn viel Schlimmes passiert, schon als Kind, dann ist es das erste, was du lernst, zu vergessen und darin war ich wirklich gut, das haben mir viele bestätigt.
Alkohol ist eine gute Substanz, wenn du vergessen möchtest, nur das Problem dabei ist: Die Dinge, die wir vergessen, bestehen immer noch. Den Termin, den du vergisst, der existiert, auch wenn du nicht erscheinst. Die Prüfung findet statt, auch wenn du sie versäumst, und deine Träume bleiben da, unerfüllt, auch wenn du sie nicht lebst und das ist ein Zustand voller Trauer.
Und die Trauer zieht sich mit, die verschleppt sich, sie sammelt sich an, wie Dreck und es kann sein, dass du immer mehr trinken musst, um sie zu vergessen und alles wird schlimmer und schlimmer. Und vielleicht hast du schon so viel Trauer angehäuft, vielleicht hat sich so viel angestaut bei dir, dass du Angst davor hast, dass dich alles überrollt, wenn du nicht mehr vergisst und die Wahrheit ist, vermutlich rollt da einiges.
Und jetzt erzähle ich dir, was ich erlebt habe und vielleicht hilft es dir.
Für mich ist es immer noch schmerzhaft, der Wahrheit ins Auge zu sehen und es tut mir immer noch weh, Dinge zu erkennen. Aber die Freude darüber, sehen zu können und immer mehr sehen zu können, überwiegt. Entscheidungen treffen zu können, einen Berg zu besteigen, um den Horizont wirklich zu sehen, zu lernen und weiterzuziehen, schon am nächsten Tag, ganz in der Früh, zum nächsten Horizont, der ganz woanders ist, das ist das, was ich Potenzial nenne. Ein Schritt nach dem anderen. Ich würde das nicht eintauschen wollen.
Potenzial ist Zukunft, Perspektive. Potenzial bedeutet, dass etwas möglich ist, wenn wir die Voraussetzungen dafür schaffen.
Meine Erfüllung liegt darin, an meinen Träumen zu arbeiten. Sie liegt in der Arbeit selbst, nicht im Ergebnis. Für mich geht es darum, mir selbst gerecht zu werden und den ganzen Weg zu genießen, nicht nur bestimmte Stationen. Wenn der Weg dein Erfolg ist, kannst du nicht scheitern. Mach dich auf den Weg.
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